Written on 2018-11-23
Josef H. Reichholfs “Mein Leben für die Natur - auf den Spuren von Ökologie und Evolution” ist eine genauso faszinierende wie anregende und streitbare Lektüre. Das 2015 erschienene Buch bietet Auszüge aus einem halben Jahrhundert Naturbeobachtungen, aufbereitet wie eine Doku und gekonnt verwoben mit ökologischen Überlegungen und gesellschaftlichen Kommentaren.
Das Werk ist in fünf große Abschnitte gegliedert, die sich jeweils an einer biogeographischen Region orientieren. Den Anfang macht sein heimisches Bayern, mit Geschichten aus seiner Kindheit und Studienzeit. Daraufhin wechselt er nach Südamerika, in dem er nach seiner Promotion ein Jahr verbrachte. Anschließend geht es über den Atlantik nach Ostafrika, das er ebenfalls bereiste (wenn auch nicht so ausführlich). Als viertes kommt ein Abschnitt über Inseln, bevor er zum Abschluss nach Deutschland zurückkehrt.
Reichholfs Naturbeschreibungen sind ganz große Klasse. Er versteht es, so lebhaft zu schreiben, dass man fast meint, eine Filmdokumentation zu schauen. Seine Geschichten können faszinierend, amüsant und berührend sein - etwa wenn er beschreibt, wie Tausende Schmetterlinge von südlich der Sahara bis nach Deutschland wandern; oder wenn er von der hautnahe Begegnung mit einer Walkuh erzählt.
Außerdem ermöglicht es ihm seine weitreichende biologische Fachkenntnis, nicht nur Beobachtungen wiederzugeben, sondern auch deren Bedeutung auszuführen. Beispielsweise zeigt er auf, dass die Wasservögel der Galapagos-Inseln in Verhalten und Physiologie zwar sehr verschieden sind, aber doch alle auf ihre Art an die besonderen Bedingungen dieser Inselgruppe angepasst sind.
Eine weiter Sache, die ich sehr an diesem Buch schätze, ist dass Reichholf in großen Zügen denkt. Nicht nur, dass er einzelne Tiere stets im Kontext ihres Ökosystems sieht, sondern auch, dass er diese Ökosysteme in den globalen Zusammenhang stellt. So verbringt er einen längeren Abschnitt damit, über die frappanten Unterschiede der südamerikanischen und afrikanischen Megafauna nachzudenken. Denn obwohl beide Kontinente eigentlich sehr ähnliche Habitate bieten, stet doch die Artenarmut der großen südamerikanischen Säugetiere in keinem Verhältnis zur Fülle und Vielfalt ihrer afrikanischen Verwandten. Die Erklärungsvorschläge, die der Autor hierfür liefert, sind bestechend und zeugen von einem großen Denker und Ökologen. (Unter anderem weist er darauf hin, dass der Erdboden des Amazonasbeckens - im Gegensatz zu dem seines Pendants, des Kongobeckens - äußerst nährstoffarm ist. Der ungeheure Pflanzenreichtum des dortigen Regenwalds ist nur durch ein äußerst effizientes Recyclingsystem möglich, das kaum Energie in die höheren trophischen Ebenen durchsickern lässt. Erstaunlicherweise wird der tatsächlich stattfindende, unvermeidliche Schwund an Nährstoffen von außerhalb ausgeglichen - durch Saharasand, der über den Atlantik geweht wird!)
Aber Reichholf bleibt nicht bei fernen Beispielen stehen. Im letzten Abschnitt des Buchs wird es persönlich: Nun betrachtet er unsere heimische Natur und wie sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte auf diese ausgewirkt haben. Er redet über Änderungen in der Landwirtschaft, Fortschritte bei der Abwasserklärung und die Ausbreitung fremder Arten. Schonungslos und meinungsstark erzählt er, was er in jahrelanger Forschungs- und Naturschutzarbeit erlebt und entdeckt hat.
Hier nimmt er kein Blatt vor den Mund. Offen kritisiert er Gruppierungen und Verbände, die er als nicht hilfreich oder schädlich für den Naturschutz sieht. Insbesondere Landwirte, Angler und Jäger bekommen seinen Zorn zu spüren. Sie seien von vielen Naturschutzbestimmungen ausgenommen, obwohl sie mit die schlimmsten Schäden anrichteten. Die wahren Naturfreunde hingegen müssten sich sinnlosen Regeln unterwerfen (wie das Verbot des Schmetterlingfangs), die die Forschung genauso erschweren wie das simple Genießen und Erkunden der Natur.
Überhaupt nimmt er die Naturschutzbewegung in Deutschland in die Pflicht. Als Naturschützer der ersten Stunde begrüßt er zwar die gesellschaftliche Annahme des Naturschutzgedankens, kritisiert jedoch manche seiner Ausgeburten. So bemängelt er, dass sich politischer Naturschutz oft kaum bis gar nicht an tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnis orientiere; und selbst Naturschutzverbände verträten viel zu häufig keine echte Ökologie mehr, sondern einen zur Religion verkommenen Ökologismus. Außerdem würden die apokalyptischen Warnungen vor dem unaufhaltbaren globalen Klimawandel ablenken von konkreten, zielführenden Naturschutzmaßnahmen vor Ort.
Auch wissenschaftlich hat er ein Hühnchen zu rupfen. Seiner Meinung nach wird die Ökologie als viel zu statisch gesehen - Natur ist immer in Bewegung, und deswegen sei längst nicht jede Änderung (speziell die Ausbreitung von Arten) als negativ zu bewerten. Auch hält er nicht viel von Modellrechnungen: Naturgeschichte sei eben vor allem auch Geschichte und als solche grundsätzlich nicht längerfristig vorhersagbar.
Positiv wird er erst wieder, wenn er darüber spricht, warum er eigentlich Naturschutz betreibt - weil die Natur schön ist. Das Staunen über und die Freude an der Natur ist der rote Faden des gesamten Buchs. Im letzten Kapitel redet er noch einmal offen über diese Liebe zur Natur und plädiert leidenschaftlich dafür, die Schönheit der Natur als ganz persönliche raison d'etre des Naturschutzes nicht zu vernachlässigen.
Ich bin von diesem Buch stark beeindruckt. Reichholf ist ein Biologe der alten Schule, ein Naturkundler ganz im Sinne Alexander von Humboldts und E.O. Wilsons (meine zwei größten Wissenschaftsvorbilder). Die Ökologie, die ich bislang an der Uni kennengelernt habe, ist in ihrer Vorgehensweise stark physikalisch geprägt: Aufgrund einer ökologischen Theorie stellt man eine Hypothese auf, denkt sich ein passendes (Freiland-)Experiment aus und veröffentlicht am Schluss eine möglichst aussagekräftige Statistik. Ein Naturkundler wie Reichholf macht es umgekehrt. Anstatt mit der Theorie zu beginnen und mit der Beobachtung zu enden, geht er einfach hinaus in die Natur und schaut sie sich an. Allein dieses Beobachten führt zu Fragen, die durch die Verknüpfung mit weiten Beobachtungen beantwortet werden können - oder auch nicht. Diese Herangehensweise zählt in der universitären Forschung oft als veraltet, da sie angeblich eine rein “observational science” darstellt (im Gegensatz zur angestrebten “predictive science”). Aber warum sich dessen schämen, solange es noch so viel Neues zu entdecken gibt? Reichholf sagt es selbst sehr schön:
Hauptzweck ist das Persönliche, das Erleben von Natur. Für mich war und ist dies das Wichtigste. Wer sich versenkt hat in die Vielfalt der Natur, wird zum Entdecker, der nicht mehr aufhören kann. Unablässig gibt es Neues, Spannendes, Überraschendes. Je mehr man weiß, desto mehr will man wissen und kennenlernen...
Fest steht, dass ich bei der Lektüre dieses Buchs fast so viel über die Natur gelernt habe wie in drei Jahren Bachelorstudium. Selbstverständlich kann ein Biologiestudium nicht nur aus Tropenexkursionen bestehen - aber hätte es gar so viel Chemie und Molekularbiologie sein müssen? Und ich weiß, dass ich nicht der einzige Student meines Jahrgangs bin, der kaum mehr als zwanzig einheimische Vogelarten kennt. (Ich habe wenigstens noch die Ausrede, dass ich nicht in Deutschland aufgewachsen bin…) Ich hoffe, dass ich im Master die Gelegenheit haben werde, meine Artenkenntnis noch einmal deutlich zu verbessern. Aber wenn selbst unsere Biologiestudenten unsere Natur kaum kennen, wie können wir das dann von der restlichen Gesellschaft erwarten? Dabei gilt nach wie vor: Was man nicht kennt, kann man nicht schätzen. Und wer will schon schützen, was er nicht schätzt?
Reichholf hat Recht. Naturschutz muss emotionaler werden. Ich freue mich über jeden Wissenschaftler, der bereit ist, sich im öffentlichen Diskurs außerhalb des Elfenbeinturms “die Finger dreckig zu machen”. Noch mehr freue ich mich über jeden Wissenschaftler, der dazu noch die Gabe hat, sein Wissen verständlich zu vermitteln und etwas von seiner ureigenen Neugierde und Faszination für die Natur weiterzugeben. Mein Leben für die Natur hat das geschafft.
Reichholfs “Opus magnum” (Zitat vom Klappentext) ist ein sehr, sehr lesenswertes Buch. Gerade für meine Kommilitonen, die sich auch auf die Ökologie spezialisieren, sollte es fast schon Bestandteil des Studiums sein. Insbesondere die von ihm entwickelten ökologischen Hypothesen haben mir hoffentlich etwas besser beigebracht, was es heißt, ökologisch zu denken.
Es ist kein leicht lesbares Buch. So gut es auch geschrieben ist - es ist lang (> 600 Seiten) und jeder Abschnitt will verdaut werden. Deswegen habe ich für die Lektüre auch drei Monate gebraucht. Aber es hat sich gelohnt.
Es sollte auch kritisch gelesen werden. Seine Erklärungen hören sich für mich schlüssig an, aber oftmals fehlt mir das Fachwissen, seine etwas spekulativeren Ausführungen zu beurteilen. Vor allem beim Thema Naturschutz wird er oft sehr zynisch - ich hoffe inständig, dass sein Pessimissmus in diesem Bereich nicht immer gerechtfertigt ist. Und schließlich ist Reichholf durchaus für seine kontroversen Thesen bekannt, etwa wenn es um den Klimaschutz geht. Trotzdem sollte man man seine Kritik nicht leichtfertig abstreifen. Dafür hat er zu viel gesehen, zu viel gelernt und zu viel getan in den vergangenen sechs Jahrzehnten.
Schließen möchte ich mit den lyrischen Worten seines Resümees:
Freude an der Natur zu vermitteln hielt und halte ich für meine wichtigste Aufgabe. [...] Das Schlimme ist ja, dass niemand den Gesang der Lerchen frühmorgens über den Fluren vermisst, der ihn nicht mehr erlebt hat. Oder die bunten Blumen auf den Wiesen und die Schmetterlinge darüber. Allzu rasch und leichtfertig wird die Erinnerung daran als romantische Naturschwärmerei abgetan. Dabei wäre es doch nötig, dass viel mehr geschwärmt würde von der Natur. Dann stünde es besser um sie.
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