Written on 2021-06-30
Hintergrund: Eine Bekannte teilte online die Analyse eines Biologen (Hervé Seligmann), nach der angeblich Covid-Impfungen von Erwachsenen zu einer erhöhten Mortalität bei nicht-geimpften Kindern führt. Hier schaue ich mir diese “Studie” genauer an:
Also, fangen wir vorne an: Zu einer wissenschaftlichen Arbeit gehört, dass man sie in den Kontext der aktuellen Forschung einbettet. Zu Beginn gibt man einen Überblick über neue theoretische und empirische Erkenntnis und skizziert offene Fragen. Dann erklärt und begründet man die eigene Methodik und beschreibt die erzielten Ergebnisse. Schließlich interpretiert man diese Ergebnisse mit Blick auf den Stand der Forschung und diskutiert, welche Auswirkungen daraus folgen könnten. Ein durchschnittlicher Fachartikel zitiert deswegen etwa 50 andere Studien, die es dem Leser erlauben, sich selber einen Überblick über den Hintergrund der Arbeit zu verschaffen. Seligmann zitiert genau 0 Fachartikel – das ist einfach nur unseriös.
Aber das ist noch lange nicht das Hauptproblem. Kurz gesagt hat Seligmann schlicht keine Ahnung von Statistik, er ist hier methodisch völlig außerhalb seines Kompetenzbereichs. Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Statistik ist die Wissenschaft der Datenanalyse, oder vereinfacht ausgedrückt, eine Sammlung von Methoden, um aus rohen Daten wissenschaftliche Aussagen zu gewinnen. Nicht jede Disziplin ist gleichermaßen auf Statistik angewiesen. Seligmann ist Molekularbiologe – diese arbeiten meist unter streng kontrollierten Bedingungen im Labor und brauchen daher oft nur sehr rudimentäre statistische Methoden. Andere Forschungsbereiche, wie Ökologie (meine eigene Disziplin) oder Soziologie haben da ganz andere Anforderungen. Dadurch, dass Ökosysteme und menschliche Gesellschaften so unglaublich kompliziert sind, von Tausenden von Faktoren beeinflusst werden und Experimente mit ihnen nur begrenzt möglich sind, müssen wir sehr aufpassen, wie wir unsere Daten analysieren. Deshalb brauchen wir oft sehr komplizierte statistische Methoden, die dieser Komplexität des Lebens zumindest ansatzweise gerecht werden können.
Seligmann begeht hier den fundamentalen Fehler, seine sehr einfachen Methoden (Pearson-Koeffizienten und t-Tests) auf Daten anzuwenden, die viel zu komplex dafür sind. Obwohl Mortalität von beliebig vielen Faktoren beeinflusst wird (Hitzewellen, Grippewellen, Sportereignisse, Verkehrsaufkommen, Lockdowns…) ignoriert er alle außer der Impfrate. Das darf man aber nicht so einfach machen: Es könnte ja sein, dass zwar die Mortalität tatsächlich mit der Impfrate steigt (was seine Daten nicht hergeben!), dass aber nicht das Impfen das Problem ist, sondern das steigende Verkehrsaufkommen, wenn die Menschen wieder aus dem Homeoffice kommen.
Damit ignoriert Seligmann die wichtigste Regel, die es in der Statistik überhaupt gibt: „Correlation does not imply causation!“ Das ist wissenschaftlich unentschuldbar. Aber es geht weiter. Zwar berechnet er die Signifikanz seiner Zwischenergebnisse, also die Wahrscheinlichkeit, dass solche Ergebnisse einfach nur zufällig zustande kommen. Doch für seine nächsten Analyseschritte ignoriert er die Signifikanz völlig und rechnet fröhlich mit Zahlen weiter, die so unsicher sind, dass sie genauso gut null sein könnten.
Fazit: Beide seiner Analyseschritte sind von Grund auf völlig falsch. Damit ist es absolut egal, was für Zahlen am Ende seiner Rechnung stehen – sie können keinerlei Aussagekraft haben. Doch selbst damit nicht genug: In seiner Diskussion versteigt er sich schließlich in die abstrusesten Spekulationen. Was er hier schreibt, ist in keinster Weise von sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnissen gedeckt, noch wäre es gerechtfertigt, selbst wenn seine Analysen richtig gewesen wären. Spätestens hier hat er für mich die Grenze der wissenschaftlichen Inkompetenz überschritten: ein solches Gefasel als „wissenschaftlich“ zu verkaufen ist einfach nur unredlich.
Siehe auch die Faktenchecks von Mimikama und Correctiv.
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