Written on 2018-12-24
Ist es vermessen, zu meinen, man habe den “einzig wahren Glauben”? Diesem Vorwurf sehen sich Christen oft ausgesetzt. Jüngst wieder in einem Streitgespräch über Glaube und Vernunft, das Spektrum der Wissenschaft im Oktober veröffentlichte: Gleich zweimal brachte ihn Volker Sommer, ein agnostischer Primatologe, gegen die gläubige Physikerin Barbara Drossel vor. Dabei ist es eine Anklage, die auf logisch sehr wackligen Beinen steht.
Hier sind die entsprechenden Auszüge aus der Debatte:
Drossel: Ich benutze auch in Glaubensdingen meinen Verstand.
Sommer: Dann sind Sie nicht religiös, sondern nur nicht bereit, die Gotteshypothese aufzugeben. Was ist mit Gläubigen, die Voodoo praktizieren oder Genitalien verstümmeln, um Götter zu beschwichtigen? Irren die sich, und nur Christen kennen die Wahrheit? [...]
Sommer: [...] Dass wir außerdem über den Osterhasen, den Weihnachtsmann oder die Wiedergeburt einen Diskurs führen können, ist keinerlei Beleg für deren Existenz.
Drossel: Man kann doch sinnvoll darüber diskutieren, ob die Existenz dieser Dinge plausibel ist!
Sommer: Aber wenn Sie sich dabei auf den auferstandenen Christus kaprizieren, müssen Sie behaupten, dass nur Christen einen offenbarten Zugang zur Wirklichkeit haben. Oder wie ordnen Sie es ein, wenn in präkolumbischen Andenkulturen Kinder geopfert wurden, um Götter zu beschwichtigen?
In beiden impliziert Prof. Sommer, dass die Beanspruchung des “einzig wahren Glaubens” einen Hochmut darstellt, der eines denkenden Menschen unwürdig ist. Denn wer kann sich schon sicher sein, die Wahrheit erkannt zu haben?
Auf den ersten Blick scheint dies eine berechtigte Sichtweise zu sein. Schließlich sind wir alle nur Menschen, die begrenzte Informationen besitzen und denen oft genug Denkfehler unterlaufen. Ist es da nicht weise und demütig, nicht auf die absolute Wahrheit der eigenen Weltsicht zu pochen?
Aber schauen wir uns die Argumentation genauer an. Letztendlich beruht sie auf einer von zwei Annahmen:
Wir können die Wahrheit grundsätzlich nicht erkennen, oder
Alle Religionen sind irrational und daher unfähig, ihren Wahrheitsanspruch logisch-sachlich zu verteidigen.
Die erste Form begegnet einem häufig im philosophischen Skeptizismus und ist Kern einer Jahrtausende alten Debatte in der Erkenntnistheorie. Obwohl sie nicht objektiv wiederlegbar ist, ist sie dennoch in sich selbst wiedersprüchlich — denn wäre sie wahr, könnten wir das nicht wissen. Damit ist sie als Fundament einer rationalen Debatte unbrauchbar.
In der zweiten Form verbirgt sich im Kontext der zitierten Diskussion jedoch ein Zirkelschluss. Denn mit ihr wird bereits vorausgesetzt, worüber diskutiert werden sollte — nämlich die Behauptung, dass Religion irrational sei. (Übrigens macht sich Sommer schon im ersten Zitat dieses Zirkelschlusses schuldig, als er a priori den Gebrauch des Verstandes als “nicht religiös” deklariert.)
Heben wir diesen Zirkelschluss auf, müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass zumindest manche Religionen eine rationale Basis haben. Sobald wir das zulassen (und genau dafür plädiert Prof. Drossel, nebst vielen anderen) gewinnen wir einen neuen Blick auf die Religionen. Statt lediglich mystische Gesellschaftskonstrukte zu sein, werden sie zu Theorien über das Wesen der Welt, die es kritisch und sachlich zu beurteilen gilt. Genauso, wie wir naturwissenschaftliche Hypothesen einer genauen Prüfung unterziehen, können wir nun die Religionen auf Basis ihrer rationalen Aussagen prüfen.
Dabei merken wir, dass die verschiedenen Religionen oft sehr widersprüchliche Aussagen machen, die sich unmöglich zur logischen Deckung bringen lassen. Gibt es eine endlose Wiedergeburt? Wie viele Götter gibt es? War Jesus ein Prophet, ein Häretiker, oder Gott selbst? Es können also nicht alle Religionen gleichzeitig wahr sein. Tatsächlich unterscheiden sich die Kernaussagen der großen Religionen so sehr, dass man sagen muss: Entweder stimmt nur eine, oder gar keine.
Damit wären wir am Ausgangspunkt angelangt. Die Alleinwahrheitsansprüche der Religionen (und damit auch des christlichen Glaubens) mögen vermessen klingen, sind aber logisch zwingend. Das bedeutet noch nicht, dass eine von ihnen auch wahr ist. Aber sobald man anerkennt, dass ein Glaube rationale Wurzeln hat, wird er zu einer prüfbaren Weltanschauung, deren Wahrheit man nicht a priori ausschließen kann. Das Christentum beansprucht diese Rationalität für sich — und quer durch die Geschichte bezeugen tausende Denker und Wissenschaftler, dass es möglich ist, mit Herz und Verstand Christ zu sein. Ob sie Recht haben, ist die nächste Frage.
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